Können wir staunen?
„Ich staune über mich selbst, wie offen ich für alles,
was das Leben bietet, geworden bin
und wie bereit, mich dem Leben zu stellen,
anstatt am Unvermeidlichen herumzumäkeln und es ändern zu wollen.
Rachel Naomi Remen, Dem Leben trauen
Wer sich ein wenig Zeit nimmt, fünf Minuten würde schon genügen, könnte sich die Frage stellen: Worüber staune ich? Welche Erlebnisse lösen in mir Staunen aus?
Im Moment des Staunens verlassen wir das, was wir bereits wissen. In solchen Augenblicken ist weniger Aktivität spürbar, sondern mehr ein Innehalten. Manchmal dauert es nur kurz, wenn wir wahrnehmen, dass das, worüber wir uns wundern, etwas Besonderes ist.
Viele gute Dinge nehmen wir selbstverständlich hin. Staunen löst in einem Menschen manchmal ein Empfinden aus, welches wir als „heilige Scheu“ bezeichnen könnten.
Im Wahrnehmen des Staunens verlassen wir den Anspruch „alles wissen zu müssen“ und lassen uns „erschüttern“. Wesentlich am Staunen ist, dass wir uns nicht nur mit dem begnügen, was wir bereits gewusst haben. Über Gewusstes staunen wir seltener.
Das Staunen verlangt keine allgemein gültigen Antworten, keine Prinzipien. Wir erleben uns selbst als Fragende und manchmal vielleicht sogar als Fragezeichen?
Vielleicht sehnen wir uns, nach dem der erste Zauber des Staunens verflogen ist, nach einer Antwort oder wünschen uns eine Begründung, die wir verstehen können.
In diesem kleinen Büchlein zählt Francoise Hértier eine große Anzahl von Dingen auf, über sie staunen konnte:
„Sich bedenkenlos an dem freuen, was man gern tut.
Seine Faulheit und seine Angst vor Veränderung überwinden.
Ernst über ein oberflächliches Thema sprechen und Witze über eine ernste Angelegenheit machen (aber nicht mit jedem!)
Glücklich sein, wenn das eigene Kind glücklich ist.
Sich der Flüchtigkeit der Dinge bewusst werden.
Einen Marienkäfer auf seinem Finger laufen lassen,
Auf die Milch auf dem Herd aufpassen und sie genau im richtigen Moment von der Platte nehmen.
Blut und Wasser über einem Text schwitzen oder wenn man mit dem Rad bergauf fährt. . . .“

denn im Staunen streift der Mensch den Hochmut ab.
Er lässt sich ja überwältigen,
von etwas Größerem in Beschlag nehmen.
Der Staunende lässt sich beschenken.
Manche staunen über das, was die künstliche Intelligenz alles kann, manchen macht die rasante Entwicklung Angst. Über den Großteil dessen, welchen Einfluss die KI auf uns hat, sind sich die meisten nicht bewusst. Systeme, wie Algorithmen treffen über oder für uns Entscheidungen, die wir im Alltäglichen nicht wahrnehmen.
Werturteile werden in vielen Bereichen nur mehr über messbare Leistung getroffen. Algorithmen steuern Meinungen und bringen dadurch immer wieder das Gift der Unmenschlichkeit unter die Bevölkerung.
Wenn Unternehmen heute den Begriff „Wert“ verwenden, so ist damit fast immer finanzielle Rentabilität gemeint. Von der Persönlichkeit eines Menschen, von seiner Liebesfähigkeit, von seinem Mitgefühl und von Freundschaft weiß die künstliche Intelligenz nichts.
Die künstliche Intelligenz kann unvorstellbare Daten speichern und den blitzschnellen Zugriff garantieren. Doch eines kann sie nicht: Staunen. Bei aller Diskussion über künstliche Intelligenz wird ein Computer eines nie haben: AHA-Erlebnisse. Das AHA-Erlebnis öffnet eine Tür des bewussten Verstehens, die bisher verschlossen war. Plötzlich weiß man etwas, worüber man oft nachgedacht hat und keine Erklärung gefunden hat.
In einem Gespräch im ORF erklärt Sarah Spiekermann Fluch und Segen der künstlichen Intelligenz.
Die Universitätsprofessorin erzählt von ihrem Uni-Alltag: „Ich verbiete, dass Übungen mit der KI gemacht werden. Es ist doch unsinnig, wenn Studenten anstatt etwas zu lernen von der KI beantwortete Aufgaben liefern. Bildung ist unersetzbar. Es geht darum, mündig und wissend zu werden, und auch fähig, die Ergebnisse der KI zu überprüfen. Ich muss doch in meine eigene Kompetenz investieren- sonst bin ich einer Maschinenwelt ausgesetzt, die ich nicht mehr kontrollieren kann.“
Es könnte bei einigen Staunen auslösen, was im Oktober 1975 in Island begonnen hat.
EIN TAG OHNE FRAUEN EINE DOKU, DIE STAUNEN AUSLÖST >>>
In Island war der 24. Oktober 1975 ein besonderer Tag für das Wirken der Frauen in der Gesellschaft. An diesem Tag haben mehr als 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung gestreikt – und einen Tag lang ihre Arbeit niedergelegt. Das galt für Erwerbsarbeit ebenso, wie für Frauen, die sich um die Kinder und den Haushalt kümmerten. Sie brachten am Morgen die Kinder zur Arbeitsstelle ihrer Ehemänner. Kollegen mussten im Bereich der Pflege für einen Tag die Arbeit alleine übernehmen. Mit dem Streik wollten die Frauen beweisen, wie sehr die Nation von der weiblichen Hälfte der Bevölkerung abhängig ist. Das Ziel war: Gleichbehandlung.
Die isländische Dokumentarfilmerin Hrafnhildur Gunnarsdóttir hat den Tag damals selbst erlebt und erzählt im Interview von ihren Erinnerungen.
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass Sinne und Wissen besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Rainer Maria Rilke
