Menschen- und Weltbilder können nutzen, helfen und ermutigen;
sie können aber auch entmutigen, schaden und den oftmals ohnehin schon
in übermäßiger Egozentrik gefangenen verunsicherten Menschen
sogar gelegentlich auf seine tatsächlichen oder subjektiv so wahrgenommenen Defizite,
Bedingtheiten oder Herausforderungen reduzieren.“
Alexander Batthyány, Rückkehr zum Psychologismus? Zur Aktualität von Viktor Frankls Kritik an Alfried Längle
Alexander Batthyány und Anna Kalender vom Viktor Frankl Institut in Wien haben eine sehr umfangreiche und äußerst gründliche Recherche auf sich genommen und viel Zeit einem Buch gewidmet, welches sehr wesentlich zur Aufklärung der unterschiedlichen Therapieschulen im Bereich der Logotherapie und Existenzanalyse beiträgt.
Das Buch „Rückkehr zum Psychologismus?“ von Alexander Batthyány und Anna Kalender ist ein Aufforderung, sich den Grundlagen des dreidimensionalen Menschenbildes von Viktor E. Frankl verstärkt zu widmen.

Das Menschenbild, welches einer Therapierichtung zugrundliegt ist wesentlicher als alle methodischen Zugänge, welche in Therapie und Beratung angewendet werden. Wir leben in einer Zeit der schnellen Rezepte und der Gier nach noch schnelleren Lösungen. Gründliches Nachdenken ist nicht gefragt.
Dennoch suchen und sehnen sich Menschen nach der Sinnlehre von Viktor E. Frankl.
Dem Menschenbild der Logotherapie und Existenzanalyse liegt vorrangig die Freiheit in Verbindung mit Verantwortung zugrunde. „Was die Existenzanalyse letztlich will, ist solche Selbstbesinnung des Menschen auf seine Freiheit, und was die Logotherapie letztlich will, ist die Selbstbestimmung des Menschen aufgrund seiner Verantwortlichkeit und vor dem Hintergrund der Sinn- und Wertewelt.“
Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch, Bern Seite 145
Das Menschenbild der originalen Existenzanalyse und Logotherapie von Viktor Frankl unterscheidet sich radikal vom Menschenbild, welches von Alfried Längle, dem Vorstand der GLE (Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse) vertreten wird. Viktor Frankl war Gründungsmitglied und Ehrenmitglied der GLE bis er 1991 seinen Rücktritt erklärte.
„Frankls Einspruch gegen die Entwicklungen und schließlich sein Rücktritt von der Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse und die daraus zu ziehenden (aber bis zum heutigen Tag nicht vollständig gezogenen) Konsequenzen aus seinem Urteil, die von der GLE vertreten Ansichten und Methoden seien wesentlich – bzw. wie Frankl selbst es formulierte, „absolut“ – „antilogotherapeutisch“. Seite 59
Mit dem „Antilogotherapeutischen“ meinte Viktor Frankl vorrangig, die Reduktion des Menschen auf Körper und Seele. Für Viktor Frankl war die geistige Dimension, die eigentlich menschliche, zu der nur Menschen und keine Tiere fähig sind. Doch das Geistige ist nicht der Verstand. Die geistige Dimension zu erklären, dazu ist der menschliche Verstand nicht in der Lage. Am ehesten bekommt man eine Ahnung, wenn man verschiedene Begriffe dem Geist oder dem Verstand zur Seite stellt. Spricht Viktor Frankl von der „geistigen Person“, dann verbindet er damit die Überzeugung, dass es in jedem Menschen einen Wesenskern gibt, der unzerstörbar ist und der auch nicht verletzt werden kann.


Der Rückzug in die Subjektivität bzw. Fokussierung auf das emotionale Erleben fällt auch in Bezug auf den Sinnbegriff der Existenzanalyse auf. Denn im Gegensatz zur Logotherapie nach Frankl fokussiert sich die Existenzanalyse (Längle) ausschließlich auf den subjektiven Aspekt, d. h. das gefühlsmäßige Sinnerleben, das auch als existentieller Sinn bezeichnet wird.
Die Vorwürfe, die Längle in diesem Zusammenhang an die originäre Logotherapie richtet, sind schwerwiegend, denn sie betreffen unmittelbar die therapeutische Begegnung mit dem Patienten. Konkret unterstellt Längle der Logotherapie, mit ihrem ontologischen Sinnbegriff den Standpunkt zu vertreten, dass wirklich allem Geschehen – auch offenkundig sinnloser Gewalt und Leiden – „in Wirklichkeit“ noch ein (verborgener) Sinn innewohne. Anna Kalender, Seite 186 + 187
Die Klarstellung dieser Unterschiede verhindert der Begriff Existenzanalyse, der von der GLE nach wie vor verwendet wird, obwohl Viktor Frankl diesen Begriff bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erwähnte. Mehr als dreißig Jahre später kümmert es die Verantwortlichen der GLE nur wenig, wie auf den Webseiten dieser Vereinigung zu lesen ist.
„Das zeigt sich etwa darin, dass auf den Webseiten der GLE, bzw. GLE-International bisweilen mit keinem Wort über den Bruch berichtet wird. Vielmehr wird Alfried Längle beispielsweise auf der sich an eine weiter, interessierte Öffentlichkeit richtende Webseite der GLE-UK vorgestellt mit den Worten, er habe „die Zügel von Frankls Arbeit“ übernommen. Seite 70
„Die Spaltung und Frankls Einschätzung, Längles Arbeiten seien „absolut anti-logotherapeutisch“, werden aber verschwiegen – was sich ja auch tatsächlich schwer mit der Werbebehauptung in Einklang bringen ließe, Längle habe die „Zügel von Frankls Arbeit“ übernommen. Vielmehr wird hier noch einmal eigens betont, dass Frankl Ehrenpräsident der GLE war und diese Amt nun von Längle ausgeübt wird. Dass und unter welchen Umständen Frankl von diesem Amt zurückgetreten ist, wird aber gar nicht mehr transparent gemacht.“ Seite 71
bei der GLE-Schule handle es sich unter theoretischen,
pilosophischen, methodischen, diagnostischen, klinischen und therapeutischen Gesichtspunkten um nicht weniger
als ein Gegenbild – eine Antithese –
zur Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls.“

„(Wir) sind angewiesen auf ein explizites Grundverständnis dessen, was Menschsein im Wesentlichen bedeutet – und aufbauend darauf, wie menschliches Leben in Gesundheit und in oder trotz Krankheit, Herausforderung und schicksalhafter, also nicht unmittelbar änderbarer Leiderfahrung gelingen kann.„
Alexander Batthyány, Seite 56
Insgesamt stellt sich vor dem Hintergrund der vorgenommenen Gegenüberstellung nämlich die Frage, ob es sich bei der Existenzanalyse (Längle) nicht in Teilen um einen Rückfall in jenen Psychologismus handelt, den zu überkommen Frankl als „das Vorhaben und eigentliche Anliegen der von uns geforderten Logotherapie betrachtete. Das Problem des Psychologismus, so Frankl, liege darin, dass dieser „ebenso wertblind ist wie geistblind“.
Anna Kalender, Seite 208
Die Orientierungslosigkeit, die Frankl bereits im 20. Jahrhundert als ein weit verbreitetes Problem beschrieb, und die er insbesondere mit dem Wegfall von richtungsweisenden Traditionen in Zusammenhang brachte, hat duch den weitgehenden Verlust einer gemeinsamen Wertegrundlage und die damit einhergehende Fragmentierung innerhalb Europas in den letzten Jahren möglicherweise noch zugenommen.
Es ist offensichtlich, dass gewaltige gesellschaftliche Herausforderungen auf die Welt zukommen.
Um diese Herausforderungen meistern zu können, ist es von zentraler Bedeutung, dass Menschen sich ihres Mitgestaltungspotenzials, ihrer inneren Freiheit und ihrer Verantwortung für sich selbst und ihre Umgebung bewusst werden, und sich dazu bereiterklären, diese Verantwortung zu übernehmen, weil es ein sinnvolles Wofür gibt – allen inneren und äußeren Widerständen zum Trotz. Das Anliegen der Logotherapie ist es, den Menschen in all diesen Punkten zu stärken.
Anna Kalender, Seite 210
„Der Mensch ist immer mehr, als er von sich und ein anderer von ihm weiß!“ Von Karl Jaspers, einem Philosophen, mit dem Viktor Frankl in regem Austausch gestanden hat, ist dieser Gedanke.
Dieses „Mehr“ hat an Ansehen verloren, seit der Mensch in den Industrieländern überwiegend auf seine Funktionen reduziert wurde. Auf seine rentable Nützlichkeit, die manchmal von einer sinnvollen Tätigkeit weit entfernt ist.
Dies hat dazu geführt, dass derzeit in vielen Bereichen das persönliche Wohlfühlen im Mittelpunkt steht und nicht ein Wofür, welches den Gemeinsinn stärkt.

Wir danken Alexander Batthyány und Anna Kalender für das Überlassen der Texte aus ihrem Buch.
Die Zusammenfassung hat Inge Patsch erstellt.