Vermutlich gibt es keine Aussage von Viktor Frankl, die mehr Diskussionen ausgelöst hat als seine Unterscheidung zwischen anständigen und unanständigen Menschen. Anlass war seine berühmte Rathausrede im März 1988 zum Gedenkjahr 1938, dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland.
Viel zu lange hat sich das offizielle Österreich als Opfer gefühlt und dabei all jene übersehen, die am Heldenplatz Hitler zugejubelt haben und jene Gruppe von Menschen, die – aus welchen Gründen immer – Parteimitglieder in der NSDAP gewesen sind. Die unheimliche Saat der damaligen Zeit nehmen manche heute mit Erschrecken wahr.
Dass die anständigen Menschen in der Minorität sind, dass sie immer eine Minorität gewesen sind und voraussichtlich auch bleiben werden – damit müssen wir uns abfinden.
Das größte Handicap der meisten liegt im Mangel oder in der Weigerung klare Gedanken zu fassen und einen mutigen Blick auf die Realität zu werfen.
Die Gedankenlosigkeit und der Realitätsverlust führen in die Banalität und dies hat Hannah Arendt als das Böse deklariert.
Dazu kommt der Irrweg, dass man nur wissen müsste, wie „etwas geht“, wäre ein harmonisches Miteinander selbstverständlich und schließlich sei alles relativ. Das stimmt nicht, denn es ist nicht alles verhandelbar. Die Grundwerte unserer Demokratie sind nicht relativ. Machtgierige Typen gab es zu allen Zeiten, doch was betroffen macht ist, dass es Leute gibt, die auch für Machtgier und Unmenschlichkeit noch Verständnis haben. Das ist gefährlich.
Wir dürfen nicht vergessen, dass nur 30 Prozent der Menschen auf dieser Erde in einer westlichen Demokratie mit freien und unabhängigen Wahlen lebt. Der Rest ist Autokratien und anderen Regierungsformen ausgeliefert, die nicht das „Wir – gemeinsam“ in ihren Grundrechten stehen hat, sondern das absolute und einseitige „Ich – allein“.
Probleme können wir nicht vermeiden, die gab es immer und wird es immer geben. In einer Gemeinschaft, die von Werten wie Humanität und eine realistische Sicht auf das soziale Bewusstsein geprägt ist, können jedoch Probleme gemeinsam gelöst werden. Kompromisse sind unvermeidlich, sie sind notwendig.
Was dazu nötig ist: Interesse am Du und Interesse an jenen Möglichkeiten, die man selbst noch nicht kennt.
„Wir müssen es beunruhigt beobachten: Die Anziehungskraft des Populismus ist in Österreich ungebrochen und nimmt kontinuierlich zu. Das ist deshalb so verstörend, weil Populismus auf Stimmung unter Ausschaltung der Vernunft setzt, auf Ausgrenzung und Kriminalisierung von Menschen, die nicht „dazugehören“ (sollen), auf Nationalismus und Verächtlichmachung des Politischen. Es gibt auch die Version „light“, in der zwar demokratisch zulässige Positionen vertreten werden, man sich aber eine populistischen Kommunikationsstrategie bedient, zu der Respektlosigkeit und Desavouierung Andersdenkender gehört. Auch das zerstört die Demokratie.“
Heide Schmidt, Ich sehe das so – Warum Freiheit, Feminismus und Demokratie nicht verhandelbar sind
Jedes Ideal verhasst ist, das mehr von ihnen fordert als eine höfliche Maske.
Gedankenlosigkeit führt in das Labyrinth der Selbstbespiegelung. Zu den Unanständigen gehören auch jene, die sich selbst für den Mittelpunkt der Welt halten. Sie haben es nicht mehr nötig, einige Gedanken an Selbstreflexion zu verschwenden. Demgegenüber führt der Realitätsverlust direkt in den Verlust des Mitgefühls. Das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ führt bei jenen, deren Leben gelingt meistens in die Eigenschaft der Überheblichkeit. Die anderen hätten sich nur bemühen müssen, dann wäre ihr Leben auch gelungen und sie müssten nicht jeden Monat bangen, ob das Geld reicht. Diese Haltung entspricht der Hybris, jener Selbstüberschätzung, die über jeden Zweifel erhaben ist. Diese Menschen haben vergessen, dass Überzeugungen eine größere Trennung bewirken als Zweifel.
Wir können uns von Viktor E. Frankl und Hermann Hesse inspirieren lassen und uns den Anständigen anschließen, obwohl sie in der Minderheit sind. Oder gerade deswegen, weil sie in der Minderheit sind. Inspiration bedeutet nicht einen Rat befolgen, sondern zuerst einmal nachdenken: Was könnte der Mensch gemeint haben und wie wirkt das auf mich?
Fragen Sie sich: Was lösen die Gedanken von Viktor Frankl und Hermann Hesse in mir aus?
Erzählen Sie anderen davon und fragen Sie nach, was berührt dich und interessiert dich das auch?
Tatsächlich sind wir teilweise so „dressiert worden“, dass manchen nicht mehr auffällt, dass sie nur nachplappern, was andere gesagt haben. Wir sollten uns nicht einlullen lassen und uns in jener Bequemlichkeit einrichten, welche nur an der Oberflächlichkeit interessiert ist. Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis sind mit der Wenn-Dann-Strategie aufgewachsen. „Wenn du fleißig lernst, dann bekommst du gute Noten!“ Die Wenn-Dann-Strategie funktioniert jedoch nur begrenzt. Passiert Unvorhergesehenes brauchen wir mehr als das „Wenn-Dann“.
Vertrauen und Zuversicht sind geistige Fähigkeiten, die niemals mit Wenn-Dann gepflegt werden können.
Das Geistige drückt sich mehr in der Haltung aus und das Geistige können wir auch als freiwillige Beziehung zum Du und zu Werten bezeichnen. Durch Beziehung zu anderen entsteht auch der geistige Halt. Dieser innere Halt, der nicht beweisbar ist, kann nicht nur durch eigene Erfahrungen gestärkt werden, sondern auch durch die Lebensweise anderer Menschen genährt werden. Immer dort, wo uns ein Mensch durch seine Lebensweise berührt oder zum Staunen bringt, wird das Geistige in uns selbst angesprochen. Weil uns zum Beispiel der Mut eines Menschen berührt oder die Fähigkeit gelassen zu bleiben ohne gleichgültig zu werden.
Wir werden nicht nur über Krieg und über die Klimakrise informiert. Wir erleben eine Krise, welche Hanspeter Dürr als „Erschöpfung der Moderne“ bezeichnet hat. Die persönliche Krise mancher besteht darin, dass man im Trubel unseres Alltags unter einem Hunger nach Geistigem und Sinnhaftem, unter einem Gefühl von Verlorensein und Einsamkeit leidet.
Manchmal ist es schon hilfreich wieder einmal ein Buch bewusst zu lesen und nicht nur zu überfliegen. Einige Stellen herausschreiben, die einem besonders gefallen, nährt den geistigen Halt in uns.
Einen guten Podcast zu hören. Wenn zwei oder mehr Menschen miteinander ins Gespräch vertieft sind und dem anderen zuhören.
Zum Abschluss einige Podcasts zum Nach-Denken und immer wieder Nach-Hören:
Wie a Seelenschliafer Armin Wolf im Gespräch mit Helga Rabl-Stadler und Martin Grubinger
Freiheit de Luxe Jagoda Marinic im Gespräch mit Maren Kroymann
Wie ist die Demokratie zu retten? Matze Hielscher im Gespräch mit Claudine Nierth