Beiträge mit Sinn

Gegen den Schlagzeilenstress

Diesen Text hat uns Ulrich Schnabel zur Verfügung gestellt. Wir danken herzlich!!
Ulrich Schnabel ist seit 25 Jahren Wissenschaftsjournalist bei DIE ZEIT in Hamburg. Er hat viele lesenswerte Bücher geschrieben und wir schätzen ihn sehr als Referent bei unseren Tagungen.

Hier ist der Link zu seiner Homepage.



Eigentlich darf man als Journalist einen solchen Text nicht schreiben:
Einen Text, in dem man Menschen empfiehlt, weniger Nachrichten zu konsumieren – das ist ähnlich verrückt, wie wenn ein Bäcker seine Kunden bitten würde, weniger Brötchen zu kaufen.


Angesichts der aktuellen Nachrichtenlage allerdings stellt sich tatsächlich die Frage: ist weniger mehr? Beziehungsweise: Wie viel Kriegs-, Krisen- und Katastrophenmeldungen kann man bewältigen, ohne in Schockstarre zu geraten? Dabei geht es nicht darum, den Kopf in den Sand zu stecken und die böse Welt da draußen zu ignorieren. Vielmehr geht es um die Kunst, informiert zu bleiben ohne im Strudel der Schreckensmeldungen zu versinken, den Überblick über das Weltgeschehen zu behalten ohne die Hoffnung und den Mut zu verlieren. Denn das ist angesichts des Trommelfeuers an schlechten Nachrichten derzeit alles andere als leicht. In solchen Zeiten ist es essentiell, weniger nachrichtliches Junk-Food zu konsumieren und dafür mehr gehaltvolle Informationen.

Das Problem ist vermutlich, dass Sie das alles schon wissen. „Klar, Doomscrolling ist schädlich, kennen wir! Das Katastrophen-Durchblättern in den sozialen Medien zieht nur die eigene Laune nach unten, ohne etwas zu bewirken. Ist bekannt.“ Doch das heißt eben nicht, dass wir angesichts der aktuellen Geschehnisse in Israel nicht doch mit schreckgeweiteten Augen vor dem Bildschirm sitzen würden und uns durch eine schlechte Nachricht nach der anderen klicken – doomscrollen eben. Denn Wissen führt nicht notwendigerweise zum Handeln, wie die Verhaltensforschung aus unzähligen Beispielen weiß: Wir wissen zum Beispiel alle, dass Bewegung gesund ist, Alkohol und Übergewicht hingegen schädlich – was noch lange nicht heißt, dass wir uns mehr bewegen oder weniger Alkohol trinken. Und die Weltgemeinschaft weiß seit Jahren, dass die Treibhausgase dringend reduziert werden müssen, beschließt dies auch immer wieder auf internationalen Konferenzen – ohne dass die CO2-Konzentrationen tatsächlich sinken würden. Denn unser Handeln wird in der Regel sehr viel stärker von eingefahrenen Gewohnheiten bestimmt als von rationalen Erkenntnissen.


Wie also durchbricht man schlechte Nachrichtengewohnheiten? Und wie sähe ein besserer Umgang mit der Droge Information aus?
Diese Frage stellt sich insbesondere angesichts von Kriegen wie im Gaza-Streifen oder in der Ukraine, die auch medial ausgefochten werden. Wenn etwa die Hamas Videoschnipsel von Hinrichtungen auf Tiktok hochlädt, dann ist das ein bewusster Angriff auf die Psyche des Gegners. Angst und Schrecken sollen die Filmchen verbreiten, und je mehr sie geteilt werden in den sozialen Medien, umso größer die beabsichtigte Wirkung. Sie nicht zu teilen und der Neugier zu widerstehen, sie sich anzuschauen, ist so gesehen der klügere Umgang mit solchen Schockmeldungen.



Doch auch gut gemeinte Berichterstattung kann unerwartete Nebenwirkungen haben. Statt uns zu empören und unsere Wut in Energie und gesellschaftliches Engagement umzuwandeln – wie es viele Nachrichtenmacher erhoffen – kann ein Übermaß an Negativmeldungen das Gegenteil hervorrufen: es kann zu Stress und Überforderung beim Publikum führen, zu Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Dieser Effekt ist inzwischen durch allerlei Studien belegt.
Eine der berühmtesten Studien dazu wurde 2013 nach dem Sprengstoffanschlag auf den Stadtmarathon von Boston gestartet. Damals explodierten auf der Zielgeraden in Boston zwei in Rucksäcken versteckte Sprengsätze, was zu Hunderten von Verletzten und mehreren Toten führte. Ein Forscherteam um die Sozialpsychologin Roxane C. Silver untersuchte daraufhin sowohl Augenzeugen vor Ort als auch Menschen, die das Ganze über die Medien aus der Ferne miterlebt hatten. Das erstaunliche Ergebnis: Jene, die am Bildschirm mehrfach und wiederholt Medienberichte zu dem Attentat verfolgt hatten, wiesen stärkere Stress-Symptome auf als die Menschen, die direkt vor Ort waren. „Stress und Ängste können durch zu viel Medien verschlimmert werden“, konstatierte Roxane Silver und riet allen Mediennutzern. „Informieren Sie sich durch zuverlässige Quellen, aber achten Sie darauf, wie viel Zeit Sie in die Nachrichten eintauchen.“

Denn auch wenn wir uns alle mehr Positives wünschen – im Zweifelsfall springt unser Gehirn auf Krisen und Katastrophen eben doch sehr viel stärker. Denn alles potenziell Gefährliche aktiviert unmittelbar unsere Aufmerksamkeit – es könnte ja überlebenswichtig sein! Eine positive Entwicklung oder der unspektakuläre Normalfall hingegen triggern kein solches Interesse. Dieser „Negativitätsbias“ ist aus der Psychologie gut bekannt, und führt dazu, dass düstere Schlagzeilen automatisch besser verkaufen als gute. Ein spektakuläres Verbrechen oder ein Flugzeugabsturz etwa lassen sich journalistisch wunderbar vermarkten, der statistische Rückgang schwerer Verbrechen oder ein sicherer Flugverkehr hingegen taugen kaum zur Schlagzeile.

Keine Drogen in Griffnähe!
Schalten Sie Push-Nachrichten ab,
meiden Sie Liveticker und andere inhaltsleere Formate, die zwar ihren Stresslevel erhöhen, aber wenig Informationsgehalt bieten.


Fragen Sie sich stattdessen: Wozu versetzt mich diese Information in die Lage?
Hilft Sie mir, bessere Entscheidungen zu treffen, erhöht sie meine Handlungsoptionen, motiviert sie mich zu etwas?
Oder stärkt sie nur das Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung? Im letzten Falle wird es Zeit zum Umschalten.

Tatsächlich ist der Schock von Negativnachrichten umso größer, je heiler die Welt in der eigenen Vorstellung imaginiert wird.
Dann wäre es an der Zeit, eine andere Geisteshaltung zu entwickeln, die Krisen nicht ausblendet, sondern als unabänderlichen Teil der Gegenwart begreift; eine Geisteshaltung etwa, wie sie der portugiesische Seefahrer Ferdinand Magellan 1519 demonstrierte, als er zur ersten Weltumsegelung aufbrach: „Es geht nicht mehr darum, sich zu versichern, dass das Meer ruhig bleibt, sondern sich darauf einzustellen, in stürmische, unbekannte Gewässer zu segeln.“


Wenn Sie den ganzen Artikel lesen möchten, dann ist hier der Text als PDF-Datei zum Download!

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