Plädoyer für den Eigensinn
„Unterschiede sind nicht dazu da, uns zu entzweien und zu entfremden.
Wir sind verschieden, damit wir erkennen, dass wir aufeinander angewiesen sind.“
Desmond Tutu
Eine verbreitete Vorstellung vieler lautet: Lebensqualität besteht aus einem möglichst harmonischen, unkomplizierten und angenehmen Tagesablauf. Also vor allem anderen ist Wohlbefinden wichtig. Dieser Einstellung liegt ein verhängnisvoller Irrtum zu Grunde. Verhängnisvoll deshalb, weil einige Menschen für dieses Ideal des – falsch verstandenen – Wohlfühlens vor allem ihren EigenSINN opfern. „Es ist sehr schade, dass der Eigensinn so wenig beliebt ist!“ Schreibt Hermann Hesse in seinem Essay „Eigensinn“.
Wir haben reichlich Mut und Mühe nötig, um für jene Werte einzutreten, die uns am Herzen liegen und für die wir bereit die Komfortzone zu verlassen. In der Logotherapie und Existenzanalyse zählt das Wohlfühlen nicht zu einem Wert, für den es sich zu leben lohnt. Das Wohlbefinden ist Effekt, ist die Folge eines tätigen, erlebnisreichen und genussvollen Lebens. Wer versucht, das Wohlbefinden oder das Wohlfühlen direkt zu erreichen, verfehlt es.
Zur Verwirklichung von eigenSINNigen Werten ist eine realistische Sichtweise dringend erforderlich. Der Blick auf die Realität kennt das Gelingen und das Scheitern. Wir brauchen wieder eine Fehlerkultur, die großzügiger mit Missverständnissen und Missgeschicken umgehen kann. Jedes Leben bleibt bruchstückhaft und je mehr man ein bestimmtes Ideal verfolgt um so eher verfehlt man, was man sich wünscht.
jedes Überschreiten des eigenen Maßes büßen,
man darf ungestraft weder im Eigensinn
noch im Anpassen zu weit gehen.
Das Ideal der Vollkommenheit fasziniert viele und dabei wird vergessen, dass das Leben selbst nicht vollkommen und selten gerecht ist. Egal um welchen Wert es sich handelt, ob Freiheit, Begeisterung oder Harmonie. Sobald ein Wert zu einem einzigen Ideal erhoben wird, spielt sich dieser Wert zum Tyrannen auf. Freiheit verwandelt sich in Willkür, Begeisterung in Fanatismus und Harmonie in eine Art unterwürfigen Gehorsam, nur um den faulen Frieden nicht zu stören. Wird ein Wert absolut gesetzt, verwandeln sich wertvolle Eigenschaften in Dämonen. Das gilt auch für den Eigensinn. Der falsch verstandene Eigensinn regiert derzeit nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch in einigen Ländern im Reich der Politik und der Wirtschaft.
Den Idealvorstellungen sollten wir die Möglichkeit des Scheiterns als sinnvolle Begleitung mit auf den Weg geben. Vieles im Leben bleibt bruchstückhaft. Das Leben als Fragment zu verstehen, soll vielmehr eine Befreiung sein, die uns von dem Extrem des Idealen erlöst. Antoine de Saint Exupery schrieb: „Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
Im Mut zur menschlichen Freiheit ruht sehr oft eine vollständig unbestechliche Souveränität, welche in der unmittelbaren Verbindung mit dem Leben gründet.
Freilich, das darf man nicht unterschlagen, für die engere und weitere Umgebung ist der Eigensinn der Freiheit immer auch eine Zumutung. Auch das Leben ist sehr oft eine Zumutung.

Welche Gedanken tauchen auf, wenn ich das Wort Eigensinn höre?
Die Erinnerung an die Ermahnung? „Sei nicht so eigensinnig!“
Sich dem Eigensinn zu widmen, lohnt sich. Unmittelbar neben dem Eigensinn wartet der Gemeinschaftssinn. Individualität und Eigensinn sind gut, doch wie alle guten Dinge verlieren sie ihr „Gutes“, wenn sie übermäßig gelebt werden. Wird das Individuelle zum Wert, der alles andere in den Schatten stellt verwandelt sich Individualität in Individualismus. Vor den „Ismen“ hat Viktor Frankl immer wieder gewarnt. Das gilt für den Egoismus ebenso wie für den Fundamentalismus und den Perfektionismus.
zur richtigen Zeit
auf Vollkommenheit zu verzichten
Der Baum auf dem Bild steht allein, doch seine Wurzeln sind mit vielen Lebewesen verbunden.
Erwin Thoma schreibt in seinem neuen Buch „Der Weg des Kirschbaums“ vom Kirschbaumcredo:
„Vertrauen statt Angst,
Freundschaft statt Geld,
Fülle statt Mangel,
das gehört zu den Mitteln,
mit denen er sein Lebensziel erreicht.“

Was uns die Bäume demonstrieren,
ist nichts anderes als die Kraft des Gemeinsinns:
die Fähigkeit, sich als Teil eines großen Netzwerkes
zu begreifen und sich darauf auszurichten.
Das heißt, nicht nur das eigene Wohl,
sondern auch das der anderen im Blick zu haben –
was letztlich alle stärker macht.
Klingt nach einer einfachen Lektion.
Die aber scheint in der heutigen Zeit
leicht in Vergessenheit zu geraten.

40 Jahre Live Aid
Was vor vierzig Jahren durch den Eigensinn
von Bob Geldof möglich wurde, können Sie in einer Dokumentation der BBC anschauen.
Es lohnt sich sehr!!!
Gegen die Infamitäten des Lebens
sind die besten Waffen:
Tapferkeit, Eigensinn und Geduld.
Die Tapferkeit stärkt,
der Eigensinn macht Spaß,
und die Geduld gibt Ruhe.