Monatsgedanken

September 2023

Man kann sein Innenleben bereichern, indem man Erfahrungen sammelt – Kultur, Natur, Kunst oder was auch immer – mit anderen Worten: durch Liebe. Arbeit und Liebe sind die Hauptstraßen, die zum Sinn führen.
Viktor E. Frankl, Sinn, Freiheit und Verantwortung


Diese Monatsgedanken hat Gudrun Bertignoll geschrieben.

Vor ein paar Tagen bekam ich ein Rätsel mit folgender Botschaft „geschenkt“: JUST – DON’T – QUIT
Durch Streichen von vier Buchstaben hätte man das „Rätsel gelöst“ und es käme ein „besseres Lebensmotto“ heraus: JUST DO IT

Ich erschrak und ich war betroffen und darum möchte ich meine Gedanken mit Euch/Ihnen teilen. JUST DO IT? Leben bedeutet für mich im Grunde genau das Gegenteil von JUST DO IT. JUST DONT QUIT  wird dem Leben aus meiner Sicht schon eher gerecht. 

„JUST DO IT“, die Machbarkeit scheint ein sehr wichtiges Ziel in unserer Gesellschaft zu sein. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer sich nur genug anstrengt, dem ist alles möglich. Puh, das macht den Menschen klein und manipulierbar.




Ich liebe die Morgenstunden und fast täglich streife ich morgens mit meinen Hunden durch den Wald. Im Moment liebe ich es Brombeeren zu pflücken. Beim Pflücken bin ich ganz aufs Pflücken konzentriert. Jeder, der schon mal Waldbrombeeren gepflückt hat, weiß, dass die Brombeeren von ganz fiesen kleinen Stacheln geschützt werden. Die kleinen Stacheln gehen tief unter die Haut, wenn man nicht aufpasst und das tut wirklich weh. Ich kann gar nicht gut genug aufpassen, den einen oder anderen Pikser der Stacheln bekomme ich zu spüren. Aufpassen ja unbedingt, aber vermeidbar sind die Pikser trotzdem nicht. Einen sicheren Schutz gibt es nicht.

Ist es beim Brombeerpflücken wie im Leben? So mancher „Pikser“ ist wohl unvermeidbar.
Will ich Brombeeren pflücken, dann gilt es, den ein oder anderen Stachel aus den Fingern zu ziehen und in Kauf zu nehmen, dass es unangenehm sein kann.

Heute war ich richtig erstaunt wie viele Brombeeren auf so einem kleinen Strauch hängen. Manche sind sofort sichtbar und leicht zu pflücken. Andere sind von zahlreichen Stacheln geschützt. Spannend war, dass ich besonders reife Brombeeren unbedingt haben wollte. Da muss man wirklich geschickt diese fiesen Stacheln so gut es geht umschiffen. Dies gelingt nicht immer. AUA es steckt schon wieder ein Stachel direkt unter dem Fingernagel. Jawohl geschafft, die Brombeere ist im Schüsserl und der Stachel ist aus dem Finger gezogen. Der Pikser wird in Kauf genommen.

Dann sehe ich Brombeeren, sie sind so schön, aber so weit weg.  Ich müsste mich richtig lang strecken, um sie zu erreichen. Heute war ich mit meiner grünen Regenjacke unterwegs und ich sagte zu mir: „Gudrun, sei schlau, kein zu großes Risiko. Die Stacheln machen schnell kleine Löcher in die Jacke“. Dennoch wäre der Reiz groß, die eine Brombeere links hinten am Strauch zu pflücken. Ich strecke mich, spüre beinahe den festen Stand zu verlieren,  gebe auf und  lasse die Brombeere hängen. Zu weit weg. Kein: Just do it!
Vielleicht probiere ich es morgen wieder, wenn es nicht mehr regnet und die neue Regenjacke im Schrank bleibt.


Spannend fand ich, dass durch Änderungen meines Blickwinkels so viele andere Brombeeren sichtbar wurden. Knieend, stehend, von links, von rechts betrachtete ich den Strauch und auf einmal sah ich eine Fülle anderer Brombeeren, die in Reichweite waren, gepikst hat es trotzdem. Sobald ich mich von der „einen“ Brombeere, auf die ich mich so fokussiert hatte, verabschiedet hatte, sah ich plötzlich so viele andere Brombeeren (so viele Sinn Möglichkeiten). Ich fand es wirklich faszinierend, diese Veränderung meiner Sichtweise. Ich hatte sie noch im Blick, die besonders reife Brombeere, doch sie war nicht mehr das „alleinige“ Ziel. Am Ende des Pflückens hatte ich vergessen wo die „so wichtige“ Brombeere hing.

Als ich den „Just do it“ Plan – diese eine Brombeere unbedingt zu „erwischen“- aufgab, taten sich so viele neue Möglichkeiten auf. Und im Handumdrehen, war mein Schüsserl voller Brombeeren,  manche süß und manche etwas sauer.



Irgendwie hat mich das Pflücken der Brombeeren an die Sinnlehre von Viktor E. Frankl erinnert. Ich gehe in den Wald, sehe einen Brombeerstrauch, beginne zu pflücken. Ich finde einige leicht zu erreichende Brombeeren, die allerdings noch nicht reif sind. Ich sehe wunderschöne, reife, große Brombeeren, die ich nicht erreichen kann. Für manche müsste ich meinen sicheren Stand aufgeben, zu viele Stacheln in Kauf nehmen oder sogar mein schützende Regenjacke opfern. Ich wünsche mir kurz längere Arme zu haben.

Vielleicht geht es im Leben – ähnlich  wie beim Brombeerpflücken darum – Möglichkeiten zu sehen, realistische Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten zu ergreifen, dem stimme ich zu, dennoch ist uns nicht alles möglich. Wir können nicht jede Ernte einfahren frei nach dem Motto: JUST DO IT!

Meine Körpergröße, meine Armlänge lässt mich nicht alle Brombeeren erreichen. Streng nach dem Motto „JUST DO IT“ zu leben, würde für mich bedeuten, diese „unerreichbaren“ Brombeeren unbedingt verfügbar machen zu müssen.

Ja ich habe die Freiheit ein Ziel zu verfolgen, aber ich muss für mein Tun auch die Verantwortung übernehmen. Freiheit gepaart mit Verantwortung. Ein wichtiger Gedanke der Logotherapie. Geld für eine neue Regenjacke ausgeben zu müssen, welches eventuell für andere Dinge benötigt werden würde, hat mit verantwortungsbewusstem Handeln wenig gemein.

Zudem würde ich – sofern ich mich total auf diese eine Brombeere „versteife“ – so viele andere Brombeeren am Strauch übersehen.


Wünsche und Träume zu haben ist etwas Wunderbares und TROTZDEM: Das Leben fragt und ich antworte! In Freiheit & Verantwortung.


Wir Logotherapeuten sind Anwälte der Realität und dürfen die Rahmenbedingungen nicht aus den Augen verlieren. Schließlich gibt es ein soziologisches, biologisches und psychologisches Schicksal. Aber das ist eine andere Geschichte.

© Brombeer-Bilder von Mario Mendez und Gudrun Bertignoll.


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