Todesmutig und lebensfeige
Wer bereits einige Jahrzehnte gelebt hat, könnte mit gutem Grund sagen, er hat die beste Zeit erlebt, die es jemals in unserem Land gegeben hat. Über einen langen Zeitraum war es vielen möglich, sich mit Mühe, Ausdauer und Engagement das zu schaffen, was sie sich vorgestellt haben. Vielen, sehr vielen ist Großartiges gelungen. In der Erfahrung des Gelingens haben einige vergessen, dass Freiheit, materielle Sicherheit und Konsum keine Selbstverständlichkeiten sind und das Misslingen zum Leben dazugehört.
Inmitten von materiellem Reichtum erschüttert etliche die Wirklichkeit – sofern sie hautnah spüren, dass nicht mehr alles möglich ist, was bisher selbstverständlich gewesen ist. Die Erfahrung von der Wirkungslosigkeit ihres Bemühens erleben immer mehr Menschen.
Lt. statista.com starben 2023 in Österreich 396 Menschen im Straßenverkehr und 1.310 Menschen setzten ihrem Leben selbst ein Ende. Es mag viele Gründe geben, welche Menschen in jene Ausweglosigkeiten führen, die Viktor Frankl als „todesmutig und lebensfeige“ bezeichnet hat.
Vielleicht ist es ein zu großer Anspruch an sich selbst, verbunden mit einem Mangel an Realitätsbewusstsein, welcher das Scheitern an Idealvorstellungen bewirkt. Der Erwartungshorizont kollidiert mit dem Erfahrungsraum, wenn das Bemühen nicht von Erfolg gekrönt wird. Auf der einen Seite empfinden manche lebensübliche Belastungen als Überforderung und sehen keinen anderen Ausweg, als selbst ihrem Leben ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite gibt es besonders bei der Jugend ein großes Engagement, zum Gemeinsinn etwas beizutragen. Dieses Scheitern wird von einer Gesellschaft gefördert, deren destruktive Dynamik sich auch in der Forderung ausdrückt, man könne alles aus eigener Kraft schaffen.
wo der Mensch für ihn selbst alles wird,
wo der Mensch nicht nur im Vordergrund der Betrachtung,
sondern im mittelpunkt der bewerung steht.“
Unser gesellschaftliches Leben ist von einem Mangel an Menschlichkeit gekennzeichnet und wird vom funktionalen Maschinendenken bestimmt. Dieses Perfektionismus-Programm hat uns eine Nichtachtung des Menschen in seiner Begrenztheit eingebracht und führt zur Entfremdung. Der überwiegende Teil unserer Gesellschaft befolgt das, was „sein muss“, um erfolgreich zu sein und dazuzugehören. Irgendwann meldet sich das Leben in uns und schenkt uns keine Kraft mehr, gehorsam zu sein.
Zu oft wird als Ausdruck des Erwachsenwerdens die vollständige Anpassung an die gerade herrschenden Verhältnisse vermittelt und gefordert. Doch die Zeit hat sich radikal verändert.
Zu oft – steht besonders bei jungen Menschen – am Ende der Kraftlosigkeit der Suizid.
Unsere Zivilisation züchtet im Grunde nur ein Bedürfnis: das der Unverletzlichkeit. Vielleicht können wir aufgrund dieser Erkenntnis besser verstehen, was Menschen in den Suizid treibt, ohne für diesen letzten Schritt Verständnis aufzubringen. Vielleicht wird ein Mensch, bevor er seinem Leben selbst ein Ende setzt, von Emotionen überschwemmt, die er lange nicht mehr wahrgenommen hat. Wozu soll ich mein Unbehagen wahrnehmen und zur Sprache bringen, wenn am Ende doch nur die Forderung steht: „Ich muss ja nur wollen.“
Wir alle wollen Liebe. Tatsächlich aber gehen viele lieblos mit sich selbst und anderen um.
Trotzdem wollen auch sie Liebe. Andere dagegen lehnen dieses Bedürfnis ab.
Manche hassen sich selbst oder andere dafür.
In dem Maße wie das Bedürfnis nach Liebe zu einem Verhängnis für den einzelnen wird,
gefährden solche Menschen uns alle.
Sie lassen uns nicht in Frieden.
Sie stiften Unruhe, um sich aus der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage zu befreien.
Arno Gruen, Verratene Liebe, falsche Götter
Manche Menschen beherrschen das Spiel „alles ist in Ordnung“ so gut, dass es Angehörigen unmöglich ist, die Gedanken an einen Suizid wahrzunehmen. Die Fragen, welche das Leben jenen Lebensüberdrüssigen stellt, können weder die Familie noch Freunde beantworten. Wesentlich wäre, Angehörige ein wenig von der grausamen Belastung zu befreien, sie hätten „etwas“ merken müssen. Das wäre absolute Selbstüberschätzung. Das Bewusstsein, dass wir alle radikal abhängig sind und nicht selbst über Leben und Tod bestimmen, müssen wir akzeptieren.
Der Zweifel an der Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins jedoch führt leicht zur Verzweiflung.
Diese Verzweiflung tritt uns entgegen als Entschluss zum Selbstmord.
Viktor E. Frankl
„Man hat vielleicht die Moralität des Menschen durch die modernen Kommunikationsmittel mehr in das Blickfeld von Publicity rücken können, was natürlich sehr wichtig ist. Aber wir haben dafür auch zahlen müssen. Wenn Sie zum Beispiel bedenken, dass die modernen Kommunikationsmöglichkeiten sich auch im Folgenden äußern, dann werden Sie meine Skepsis verstehen:
Wir leben doch bekanntlich in einer Zeit der Eskalation der Selbstmorde, und in Detroit, der berühmten Autostadt, gibt es viele Selbstmorde. Für sechs Wochen ist allerdings plötzlich die Selbstmordrate abgesunken und nach sechs Wochen ebenso plötzlich wieder in die Höhe geschnellt. Wissen Sie, was während der sechs Wochen los war? Ein kompletter Zeitungsstreik. Über keinen Selbstmord konnte berichtet werden, man konnte die Sache nicht breittreten, und das hat sofort dazu geführt, dass weniger Selbstmorde passiert sind.“
Viktor E. Frankl in: Mehr als glücklich, Inge Patsch, Sebastian Schmidt
Ob es tatsächliche die Unabhängigkeit und der Individualismus ist, der Menschen ermutigt, für sich selbst Sinn zu erfahren? Vermutlich nicht. Um gut leben zu können, brauchen wir alle und besonders junge Menschen ein Wofür. Ein Wofür, für das man die Mühe auf sich nimmt, wenn die erste Begeisterung verflogen ist. Wir werden einander mehr vertrauen müssen und einander einiges zumuten. Wir werden vielleicht andere berühren und uns von ihnen inspirieren lassen. Doch Rezept gibt es dafür keines.
Es gibt Menschen, die uns aufgrund ihres Lebens Orientierung geben können. Viktor Frankl war einer von vielen. Er gründete in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Jugend-Beratungs-Stellen und die Wirkung war erstaunlich: Nach einem Jahr gab es keinen einzigen Schüler-Selbstmord mehr.
„Es kommt eben einzig auf den Zusammenhang an, den der Mensch mit der Realität aufweist! Unfruchtbar dagegen ist alle Auflehnung gegenüber dem Schicksal und seinen täglichen und stündlichen Forderungen! Freilich ist unser Kampf gegen die Reste von Pathos und Sentimentalität, die immer noch in uns stecken, nie endgültig und vollständig durchführbar.
Aber wer sagt uns denn, dass wir absolut vollkommen sein müssen?
Ist denn die arme Erde für Engel geschaffen? . . .“
Viktor E. Frankl, Frühe Schriften, Wien 2005
Niemand von uns weiß, was kommt und das Einzige, was wir tun können: Uns ermutigen.
Freunde wir gehen nicht kaputt
an den Kämpfen, die uns verzehren
die meisten von uns gehen gemütlich kaputt
weil sie jammern statt sich zu wehren
Und wir lecken die Wunden geschwind
die Welt ist ja so gemein
Mensch, wenn die Zeiten beschissen sind
müssen wir’s doch nicht sein
Wolf Biermann
Jeremias Thiel war elf Jahre und völlig verzweifelt als er in Kaiserslautern zum Jugendamt ging. Doch Jeremias hat es geschafft, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ein Gespräch mit ihm macht deutlich, wie wesentlich es ist, dass für Kinder und Jugendliche jemand da ist, der sie ernst nimmt und ihnen einen Raum bietet, an dem sie sich geborgen fühlen und lernen können.
Im Podcast „Was Armut mit Kindern macht“ erzählt Jeremias Thiel aus seinem jungen Leben.