Monatsgedanken

November 2024



Wer bereits einige Jahrzehnte gelebt hat, könnte mit gutem Grund sagen, er hat die beste Zeit erlebt, die es jemals in unserem Land gegeben hat. Über einen langen Zeitraum war es vielen möglich, sich mit Mühe, Ausdauer und Engagement das zu schaffen, was sie sich vorgestellt haben. Vielen, sehr vielen ist Großartiges gelungen. In der Erfahrung des Gelingens haben einige vergessen, dass Freiheit, materielle Sicherheit und Konsum keine Selbstverständlichkeiten sind und das Misslingen zum Leben dazugehört.
Inmitten von materiellem Reichtum erschüttert etliche die Wirklichkeit – sofern sie hautnah spüren, dass nicht mehr alles möglich ist, was bisher selbstverständlich gewesen ist. Die Erfahrung von der Wirkungslosigkeit ihres Bemühens erleben immer mehr Menschen.


Vielleicht ist es ein zu großer Anspruch an sich selbst, verbunden mit einem Mangel an Realitäts­bewusstsein, welcher das Scheitern an Idealvor­stellungen bewirkt. Der Erwartungshorizont kollidiert mit dem Erfahrungsraum, wenn das Bemühen nicht von Erfolg gekrönt wird. Auf der einen Seite empfinden manche lebensübliche Belastungen als Überfor­derung und sehen keinen anderen Ausweg, als selbst ihrem Leben ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite gibt es besonders bei der Jugend ein großes Engagement, zum Gemeinsinn etwas beizutragen. Dieses Scheitern wird von einer Gesellschaft gefördert, deren destruktive Dynamik sich auch in der Forderung ausdrückt, man könne alles aus eigener Kraft schaffen.


Unser gesellschaftliches Leben ist von einem Mangel an Menschlichkeit gekennzeichnet und wird vom funktionalen Maschinendenken bestimmt. Dieses Perfektionismus-Pro­gramm hat uns eine Nichtachtung des Menschen in seiner Begrenztheit eingebracht und führt zur Entfremdung. Der überwiegende Teil unserer Gesellschaft befolgt das, was „sein muss“, um erfolgreich zu sein und dazuzugehören. Irgendwann meldet sich das Leben in uns und schenkt uns keine Kraft mehr, gehorsam zu sein.

Zu oft wird als Ausdruck des Erwachsenwerdens die vollständige Anpassung an die gerade herrschenden Verhältnisse vermittelt und gefordert. Doch die Zeit hat sich radikal verändert.

Zu oft – steht besonders bei jungen Menschen – am Ende der Kraftlosigkeit der Suizid.


Unsere Zivilisation züchtet im Grunde nur ein Bedürfnis: das der Unverletzlichkeit. Vielleicht können wir aufgrund dieser Erkenntnis besser verstehen, was Menschen in den Suizid treibt, ohne für diesen letzten Schritt Verständnis aufzubringen. Vielleicht wird ein Mensch, bevor er seinem Leben selbst ein Ende setzt, von Emotionen überschwemmt, die er lange nicht mehr wahrgenommen hat. Wozu soll ich mein Unbehagen wahrnehmen und zur Sprache bringen, wenn am Ende doch nur die Forderung steht: „Ich muss ja nur wollen.“


Manche Menschen beherrschen das Spiel „alles ist in Ordnung“ so gut, dass es Angehörigen unmöglich ist, die Gedanken an einen Suizid wahrzunehmen. Die Fragen, welche das Leben jenen Lebensüberdrüssigen stellt, können weder die Familie noch Freunde beantworten. Wesentlich wäre, Angehörige ein wenig von der grausamen Belastung zu befreien, sie hätten „etwas“ merken müssen. Das wäre absolute Selbstüberschätzung. Das Bewusstsein, dass wir alle radikal abhängig sind und nicht selbst über Leben und Tod bestimmen, müssen wir akzeptieren.

Jeremias Thiel war elf Jahre und völlig verzweifelt als er in Kaiserslautern zum Jugendamt ging. Doch Jeremias hat es geschafft, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ein Gespräch mit ihm macht deutlich, wie wesentlich es ist, dass für Kinder und Jugendliche jemand da ist, der sie ernst nimmt und ihnen einen Raum bietet, an dem sie sich geborgen fühlen und lernen können.

Im Podcast „Was Armut mit Kindern macht“ erzählt Jeremias Thiel aus seinem jungen Leben.


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