Monatsgedanken

November 2023

Denn das wahre Geheimnis ihres Daseins
Trägt sie mit sich davon.
Wie jeder von uns.

Noch erkennt sie mich – wie lange noch ist ungewiss.
Erika Pluhar in ihrem Buch „Gitti“


Der Verfasser dieses Textes ist dem Verein bekannt.


Ich gehe mit dir spazieren,
halte deine Hand,
lache mit dir über Enten und Pfauen.
Ich wünschte all das wäre banal,
für mich ist es eine Welt.
Vögel mochte ich nie,
jetzt trösten sie mich.

Ich trauere seit Jahren um dich –
einen Menschen, der doch noch lebt.
Für dein Alter bist du vital und doch –
du wirst durchsichtig
und verschwindest immer schneller.
Was nicht verschwindet
ist die Liebe zu dir.

Doch ich trauere nicht nur um dich,
meinen geliebten Menschen,
sondern auch um dein Leben,
das so im letzten Abschnitt aussieht
und um das, was du jetzt mit Würde erduldest.

Ich trauere um alle Möglichkeiten,
die es nicht mehr gibt,
die nicht mehr realisiert werden können.
Was bleibt, ist nur da zu sein.

Ich fürchte mich vor deinem Tod,
vor deinem Verlust.
Doch ich habe eine existenzielle Angst vor dem Tag,
wo deine Augen mich erblicken,
und du mich nicht mehr erkennst.

Bis dahin nutzen wir die verbleibende Zeit.
Noch kann ich mit dir spazieren gehen,
noch kann ich deine Hand halten,
noch kann ich mit dir lachen.
Noch…

Der Abschied von Menschen
und Möglichkeiten
gehört zum Leben.
Doch es schmerzt,
weil Abschiede seit Jahren
zu deinem und meinem Leben gehören.

Ein Leben, das gelebt wurde,
ein Leben, das mein Leben ermöglichte.
Deine Erinnerungen,
die da sein müssten
und doch verschwunden sind?

Frankl´s Scheunen – sie leeren sich bei dir.
Doch ich bin noch da.
Fülle für dich die Scheunen des Moments.

Manchmal blitzt dein Wesen noch auf.
Ich sehe es in deinen Augen
und deiner Art auf Menschen zuzugehen.

Ich habe viele deiner guten Eigenschaften –
deine Zielstrebigkeit,
deine Verlässlichkeit,
dein Durchhaltevermögen.

Mit deinen Zeichnungen
hast du meine Kreativität als Kind geweckt,
die ich gegen deine Angst,
sie könnte mir nicht gut bekommen,
verteidigen musste.
Es stärkte meinen Willen
meinen Weg zu gehen.
Ich wünschte, du würdest mir
noch einmal einen Donald Duck zeichnen.

Dein Jazz machte alle wahnsinnig
und meine Welt lebendig.
Sie zeigte mir, dass Dissonanzen zum Leben gehören.
Ich wünschte, wir könnten sie gemeinsam
noch einmal so hören, wie früher.

Nur deine Leidenschaft für Sport,
sie kann mir gestohlen bleiben.

Ich hoffe, du bist stolz auf mich,
auf das, was aus mir wurde.

Du hattest kein leichtes Leben
und besonders keine leichte Kindheit,
hast nie darüber gesprochen
und doch das Beste daraus gemacht.
Wie auch jetzt.

Du hast alles mit dir selbst ausgemacht,
was jetzt alles schwerer macht.
Wir können nichts mehr
besprechen, aussprechen, abschließen.
Sorgen teilen, Gefühle benennen?
Ein Schwäche von dir, doch leider anerzogen.

Dein Zustand gleicht deine Schwächen aus.
Nie zuvor haben wir uns
so oft umarmt,
so oft geküsst,
so oft an den Händen gehalten.

Der Inhalt fehlt,
du fehlst,
Doch das Gefühl?
Es bleibt.
Hoffentlich auch auf deiner Seite
bis zum Schluss?

„Ich hab dich so fest lieb. Du mich auch?“ – „Sehr viel lieb.“

Alles gesagt,
in wenigen Worten.
So warst du,
so bist du,
so wirst du für mich bleiben
und noch so viel mehr.

Mein geliebter Vattl.

—-

Mein Text ist allen pflegenden Angehörigen gewidmet, die jeden Tag – ohne wenn und aber – für ihre Lieben alles geben und sich selbst meist dabei übersehen und sich selbst aufgeben.
Allein in Tirol spricht man derzeit von 50.000 Personen, großteils Frauen, die diese Hilfe selbstlos leisten, bis sie meist selbst nicht mehr können.

Helft ihnen, auch wenn Sie euch nicht aktiv fragen.
Eure tägliche Leistung ist nicht selbstverständlich!
Mein größter Respekt gilt euch allen!

Einer möchte ich besonders danken.
Danke, dass du für meine Großeltern und jetzt für Papa da warst und weiterhin bist.
Danke, dass du mit mir fest an seiner Seite stehst,
und mich auffängst, wenn ich nicht mehr kann.
Ich wünschte, ich könnte mehr tun.
Du weißt, was du mir bedeutest.
Bitte pass auf dich auf und schau auf dich,
meine geliebte Mama!



Sehr klar erzählt Gabriele von Arnim in ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ von der Pflege ihres Lebensgefährten, dem sie über zehn Jahre zur Seite stand. Sie ist auch in diesem Beitrag Sternstunden Religion zu sehen. Hier zum Gespräch.




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