Vom Geheimnis glücklicher Zufälle
So wie ein Geheimnis sind auch Wurzeln nicht sofort sichtbar.
Dennoch würde kein Baum dem Wind standhalten, hätte er keine Wurzeln.
Es gibt in der Natur Pflanzen, die unterirdisch ein großes Wachstum haben. Wurzeln wachsen unter der Erde weiter und irgendwann entsteht daraus ein junger Trieb und erreicht das Tageslicht. Ähnlich ist es mit unseren eigenen Wurzeln. Für uns Menschen könnte ein wesentliches und tröstliches Bewusstsein darin liegen, sich den eigenen seelisch-geistigen Wurzeln zu widmen und zu entdecken, was uns bisher getragen hat und heute weitergehen lässt.
die gefährlichste Krankheit
der menschlichen Gesellschaft.
Wer entwurzelt ist, entwurzelt.
Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.
Die Verwurzelung ist vielleicht
das wichtigste und meistverkannte
Bedürfnis der menschlichen Seele.“
Viktor E. Frankl und seine Sinnlehre können die eigenen Wurzeln befruchten. Die Logotherapie und Existenzanalyse zu verstehen, ist und bleibt ein Wagnis. Man sollte von sich selbst nicht zu viel erwarten und auch nicht zu viel verlangen. Hört man Viktor E. Frankl in einem Interview zu oder nimmt sich Zeit, Vorträge von ihm zu hören, ist bei vielen die Bereitschaft groß, ihm zuzustimmen. Doch das erste Berührt-Sein ist jedoch nur eine Seite. Gewiss eine wesentliche. Die zweite Seite ist schwieriger und stellt an alle, welche Frankls Sinnlehre ernstnehmen einen hohen Anspruch. Die Herausforderung gilt auch jener kurzen Formulierung, mit der Frankl selbst einem interessierten Mann seine Logotherapie erklärt hat. Nachdem er Frankl erklärt hatte, dass man sich bei der Psychoanalyse auf eine Couch legt und Unangenehmes erzählen muss, fragte der Mann nach dem Unterschied zwischen Psychoanalyse und Frankls Sinnlehre. Viktor Frankl erwiderte: „In der Logotherapie dürfen Sie sitzen bleiben, müssen sich jedoch Dinge anhören, die unangenehm zu hören sind.“
Das Unangenehme fordert die gewohnte Sichtweise heraus, bringt ein Realitätsbewusstsein ins Spiel, kann zu persönlicher Erkenntnis führen und diese wächst – wie die Wurzeln – nur allmählich und ziemlich langsam. Es bleibt kaum etwas Anderes übrig, als sich der Persönlichkeit dieses Genies auszuliefern, ein Genie, das dem, was wir unter Menschlichkeit verstehen, ganz nahe ist. Vielleicht ist es so etwas wie heilige Scheu, die sich leise meldet, wenn durch das Leben von Viktor E. Frankl, durch seine Gedanken, die eigenen Wurzeln genährt werden.
geh hinunter, so tief es geht, in dich selbst.
Steige die lange Wendeltreppe ab, Runde um Runde, bis du wirklich in dir selbst bist, und dann horch!
Denn dich soll das Wort finden,
das in dir Wurzeln schlagen soll.
Du bist der Acker, in den es fällt.“
Es gibt kein Rezept für die Anwendung von Frankls Sinnlehre. Doch genau das erwarten die meisten. In der Zeit des grenzenlosen Wachstums brachten planbare Strategien das gewünschte Ergebnis: Wohlstand und finanzielle Nützlichkeit. Wer dies als einziges Kriterium gelten lässt, wird sich mit den Veränderungen in der Gesellschaft schwer tun. Es geht um die Akzeptanz, dass anstelle eines Rezepts oder einer Strategie Inspiration, die herausfordert in der Logotherapie zu finden ist.
Im Inspiriert-Werden schlummert eine Art geheimnisvolle Erkenntnis, die sich nicht sofort zeigt und daher nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Inspiration kommt aus dem Lateinischen und inspiratio bedeutet Beseelt-Werden. Inspiration ist nicht konkret fassbar und schon gar nicht beweisbar. Wer offen ist, sich von Menschen inspirieren zu lassen, könnte das Geheimnis glücklicher Zufälle entdecken.
Inspiration hat mit der Wahrnehmung zu tun, dass ich etwas annehmen kann. Inspiration geschieht und wir könnten unser Leben bereichern und unsere Wurzeln nähren, in dem wir offen Texte auf uns wirken lassen, die andere geschrieben haben.
So wie wir uns über andere wundern,
dass sie so anders sind,
wundern sich wieder andere über uns,
dass wir anders sind als sie.
Václav Havel
Jagoda Marinic erzählt in ihrem Podcast „Freiheit de Luxe“, im Gespräch mit Katja Riemann von einem Erlebnis in ihrem Germanistikstudium. Ein Lektor von Suhrkamp führte mit den Studierenden ein Experiment durch. Er verteilte verschiedene Texte auf losen Blättern, keine Bücher. In Kleingruppen sollte die Studierenden diese Texte beurteilen. Die Aufgabe lautete: Würden Sie diese Texte drucken, wenn Sie Lektoren wären?
Es war ein komplizierter Kurs und die Leute hatten an allem etwas zu kritisieren und fanden alles schlecht. Am Ende der Arbeit haben alle entschieden, keinen dieser Texte zu verlegen. Die Kommentare lauteten: „Das ist nicht gut und das auch nicht. Nichts ist gut genug zum Druck.“
Dann sagte der Lektor von Suhrkamp: „Alle Texte, die Sie gerade gelesen haben sind Texte von großartigen Autoren und erscheinen im nächsten Frühjahr bei Suhrkamp. Ich wollte euch nur mal die Arroganz eurer kritischen Haltung bewusstmachen. Ihr haltet Kritik für einen Wert. Ihr denkt, ihr könnt Eure Intelligenz unter Beweis stellen, indem ihr alles besonders kritisch bewertet, was man euch vorlegt. Anstatt wahrzunehmen, was darin liebenswert und verstehbar wäre, habt ihr nichts anderes als Kritik im Sinn.
Diese Geschichte könnte als Inspiration dienen, mehr auf das, zu schauen, was leuchtet und uns wärmt. Dem Gehmeinis der eigenen Wurzeln zu folgen ist eine lohnende Herausforderung.
Dauer, Zeit und Raum
sind wie Brandungsschaum,
der vergeht, in des die Flut sich wendet –
doch das kleinste Sein
schließt ein Wesen ein,
das von Anfang ist und niemals endet.
Der du dich besinnst,
ob du einst verrinnst
gleich dem Sand und gleich dem Regentropfen –
denk, dass Meer und Land,
Wasser, Fels und Strand
steter sind als deines Herzens Klopfen.
Nur was in dir brennt,
was kein Wort benennt,
dauert über der Vernichtung Flammen.
Wärst du nicht geweiht zur Unsterblichkeit
bräch’ die Schöpfung in sich selbst zusammen.
Carl Zuckmayr